21. September 2015

Eine kleine Bitte an Kai Diekmann

Lieber Kai Diekmann,

mit Ihrer Zeitung fahren Sie derzeit eine Kampagne: Sie versuchen, die freundliche Willkommenskultur in Deutschland zu stärken. Ich unterstütze das Ziel dieser Kampagne.

Gleichzeitig mache ich mir Sorgen. Denn für die Bild-Zeitung gilt das Prinzip: Wer mit ihr im Aufzug nach oben fährt, der fährt auch mit ihr im Aufzug nach unten. Das hat Ihr Chef Mathias Döpfner vor neun Jahren gesagt - und Sie haben schon bewiesen, dass Sie sich an dieses Prinzip halten.

Ich glaube, dass die Willkommenskultur gerade sehr gebraucht wird. Ich glaube aber auch, dass sie in den nächsten Monaten und Jahren noch mehr gebraucht wird. Wenn die Migranten mehr haben wollen als ein Feldbett in einer Turnhalle. Wenn sie Arbeit wollen, eine Wohnung, einen Ort, um ihre Kultur zu leben. Wenn die Medien sich wieder um andere Themen kümmern und viele Ehrenamtliche vielleicht auch.

Nun ist es als Chefredakteur einer Zeitung eigentlich gar nicht Ihre Aufgabe, Kampagnen zu fahren, glaube ich. Ihre eigentliche Aufgabe ist es, Neuigkeiten zu berichten und zu erklären. Darum werden Sie in Zukunft – hoffentlich – auch über Probleme berichten, wenn es sie gibt. Wenn Integrationsbemühungen scheitern, wenn Flüchtlinge zu Kriminellen werden, wenn Stadtteile kein friedliches Zusammenleben hinbekommen. Und Sie werden – hoffentlich – versuchen, den Ursachen dieser Probleme auf den Grund zu gehen. Diese journalistische Aufgabe kann kompliziert sein, weil nichts nur eine einzige Ursache hat und weil naheliegende Zusammenhänge beim näheren Hinsehen oft gar keine sind. Ein voreilig herangezogenes Erklärungsmuster kann zum Beispiel die Zugehörigkeit zu einer Ethnie sein.

Ich frage mich: Werden Sie auch dann noch versuchen, die Willkommenskultur in Deutschland zu stärken, wenn es unbequem wird? Oder werden Sie zumindest dafür sorgen, dass die Berichterstattung der Bild-Zeitung die Menschen nicht unnötig gegeneinander aufbringt? Um mir und wahrscheinlich vielen anderen diese Sorge zu nehmen, bitte ich Sie um ein Versprechen.

Versprechen Sie uns, dass die Bild-Zeitung nicht suggerieren wird, das Verhalten Einzelner habe mit ihrer Herkunft zu tun, wenn es dafür keine konkreten Anhaltspunkte gibt.

Darum bitte ich Sie.

26. Juni 2015

Demonstrieren ist auch an hässlichen Orten erlaubt

Der Bundesgerichtshof hat einer Klage gegen die Flughafen Berlin Brandenburg GmbH stattgegeben und vorherige, anders lautende Urteile aufgehoben (Az V ZR 227/14). Geklagt hatte der Jesuitenpater Christian Herwartz, der mehrfach Mahnwachen vor dem Flughafengefängnis angemeldet hatte. Diese Mahnwachen waren vom Flughafen verboten worden.

Beide Seiten beriefen sich auf das "Fraport-Urteil" des Bundesverfassungsgerichts (Az 1 BvR 699/06). Darin heißt es sinngemäß, dass Demonstration auch auf Privatgelände genehmigt werden müssen, wenn dieses Gelände zum Beispiel den Charakter eines Forums hat, wenn es zum Flanieren einlädt und ein Raum der Kommunikation ist. Der Flughafen sah diese Bedingungen auf dem Betriebsgelände, auf dem sich das Gefängnis befindet, nicht gegeben. Der Kläger argumentierte, die Formulierung des Bundesverfassungsgerichts sei beispielhaft. Dass der Charakter eines Forums gegeben ist, sei keine zwingende Voraussetzung für die Genehmigung einer Demonstration.

Der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs schloss sich der Argumentation des Klägers an. Die Versammlungsfreiheit gelte an hässlichen Orten wie einem Gewerbegebiet genauso wie an schönen Orten, die zum Flanieren einladen. Zwar gäbe es davon Ausnahmen, wenn ein Gelände normalerweise nicht für die Öffentlichkeit erreichbar ist. Doch dies trifft auf das Betriebsgelände des Flughafens nicht zu. Hier gibt es nur im Einzelfall Einlasskontrollen.

Der Kläger ist zufrieden mit dem Urteil. Um das Unrecht des Flughafenverfahrens zu verstehen, sei es hilfreich, sich vor den Mauern des dafür genutzten Gefängnisses zu versammeln. Dies sei nun endlich möglich, so Herwartz.

Peinlich ist die Sache für den Flughafen und seine Gesellschafter, die Länder Berlin und Brandenburg sowie die Bundesrepublik Deutschland. Sie haben es einem Einzelnen abverlangt, sich über mehrere Jahre durch drei Instanzen zu klagen, um die Versammlungsfreiheit zu verteidigen.

Weitere Informationen auf der Website des Klägers.

24. Juni 2015

Flughafen Berlin droht Verurteilung durch BGH

Der Flughafen Berlin-Brandenburg GmbH droht eine Verurteilung durch den Bundesgerichtshof. Die Gesellschaft, die sich im Besitz der Bundesrepublik und der Länder Berlin und Brandenburg befindet, hat nach Ansicht des Klägers die Demonstrationsfreiheit unzulässig eingeschränkt.
So untersagte es der Flughafen dem Jesuitenpater Christian Herwartz mehrfach, eine Mahnwache vor dem Flughafengefängnis abzuhalten. Nach Ansicht des Flughafens hat dieser das Recht, Demonstrationen auf dem Betriebsgelände zu untersagen, weil es sich nicht um einen öffentlichen Raum handle. Allerdings ist das Gelände bis zum Gefängnis normalerweise frei zugänglich. In der direkten Umgebung befinden sich Unternehmen mit Publikumsverkehr. Wenn der Flughafen sein Grundstück an 364 Tagen im Jahr der Öffentlichkeit zugänglich macht und auf diesem Grundstück ein Gefängnis betreibt, dann darf er nicht gerade dann den Zugang verwehren, wenn jemand eine politische Demonstration anmeldet, meint Herwartz.
In einem ähnlichen Fall hatte das Bundesverfassungsgericht 2011 geurteilt, der Flughafen Frankfurt könne Demonstrationen in seinen Gebäuden nicht untersagen (Az 1 BvR 699/06).
Herwartz organisiert mit der Gruppe "Ordensleute gegen Ausgrenzung" seit 20 Jahren Mahnwachen vor dem Abschiebegefängnis Berlin-Köpenick um darauf hinzuweisen, dass dort Menschen ohne den Vorwurf einer kriminellen Tat inhaftiert werden.
Dies geschieht auch im Flughafengefängnis. Dort kommt hinzu, dass auf die Inhaftierten das "Flughafenverfahren" angewandt wird. Dieses Mittel verkürzt die Dauer von Asylverfahren und verhindert so, dass Menschen ihre Rechte wahrnehmen: Widersprüche werden nur oberflächlich geprüft, Klagen sind kaum möglich. "Der Rechtsstaat hat sich einen toten Winkel geschaffen", schreibt Herwartz in einem offenen Brief an die politisch Verantwortlichen. "Und in diesem toten Winkel pfercht er die Menschen ein, die diesen Rechtsstaat am dringendsten bräuchten." Nach Ansicht des Paters muss es möglich sein, vor Ort auf diese Zustände hinzuweisen. Es darf nicht sein, dass der Staat einen so sensiblen Bereich vor der Öffentlichkeit versteckt.
Das Landgericht Cottbus hat in seinem Urteil die Revision zugelassen und dies unter anderem damit begründet, dass die Fortbildung des Rechts eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs erfordert (§ 543, Abs. 2 ZPO). Der Bundesgerichtshof verhandelt den Fall unter Az V ZR 227/14 und verkündet sein Urteil am:

26. Juni 2015 um 9 Uhr in Raum N 004

Der Kläger würde sich über die Präsenz der Medien und über Vorabberichterstattung freuen und steht auch vor Ort für Interviews zur Verfügung. Alle juristischen Dokumente lassen sich auf der Website des Klägers einsehen. Für Journalisten besonders hilfreich ist die Revisionsbegründung.
Bei Rückfragen wenden Sie sich gerne an:
Christoph Herwartz
c.herwartz@web.de

25. September 2014

Im Gefängnis

Ich hatte es fast vermutet, dass ich meinen Onkel am 23. August 2012 im Gefängnis treffen würde. Ich war als Journalist unterwegs und folgte einer Einladung des brandenburgischen Innenministers Dietmar Woidke. Der Minister wollte, dass ich über sein neues Gefängnis schreibe, weil es so schön hell gestrichen ist und nicht so baufällig aussieht wie das alte. Der Zweck des Gebäudes hat sich aber nicht verändert: In diesem Gefängnis auf dem Flughafen Berlin-Schönefeld werden Asylbewerber festgehalten. Sie kommen mit dem Flugzeug an und sollen gar nicht erst den Boden des deutschen Rechtsstaats betreten, bevor man sie wieder abschiebt.



Diese Methode heißt "Flughafenverfahren" und ist ein Unding: Denn was nutzt ein Rechtsstaat, der sich selbst tote Winkel schafft und dort die Leute einpfercht, die den Rechtsstaat am dringendsten bräuchten? Im Flughafenverfahren haben Menschen weniger Zeit, ihr Recht wahrzunehmen. Wenn der eilig gestellte Asylantrag eines Flüchtlings abgelehnt wird, kann er dagegen klagen – das Urteil fällt aber erst, wenn der Flüchtling schon längst abgeschoben ist. Das Flughafenverfahren wird auch auf Minderjährige und Familien mit kleinen Kindern angewandt. Auch Minister Woidke findet das alles eigentlich nicht richtig, sagte er.

Dass der Minister die Presse eingeladen hatte, da bin ich mir sicher, war als Botschaft gemeint: Schaut her, hier müssen wir uns zwar nicht an alle Gesetze halten, aber es ist trotzdem alles in Ordnung. Der blaue Fußboden, die Rutsche im Garten und das gute Wetter wirkten: Der Ort hatte etwas Freundliches.

Mein Onkel Christian, den ich im Gedränge der Journalisten entdeckte, weiß, dass dies kein freundlicher Ort sein kann. Er setzt sich für Menschen ein, die so weit am Rande der Gesellschaft stehen, dass sie auch von Hilfsorganisationen und NGOs oft übersehen werden. Zum Beispiel organisiert er seit Jahren Mahnwachen vor dem Flughafengefängnis. Es kommen meistens nur zehn oder zwanzig Leute – eine kleine, feste Gruppe. Mein Onkel ist Jesuit, die Mahnwache veranstaltet er gemeinsam mit einem jüdischen, einem muslimischen und einem hinduistischen Geistlichen. Sie beten gemeinsam und versuchen, sich bei den Häftlingen per Megafon bemerkbar zu machen. Natürlich kam Christian auch zu dem Termin mit dem Minister und schaute sich das neue Gefängnis aus der Nähe an.

Wenig später beantragte Christian eine Mahnwache vor dem Flughafengefängnis – wie schon so oft. Sie sollte am 3. Oktober 2012 stattfinden. Zwei Wochen, nachdem der Minister demonstriert hatte, wie transparent er mit dem Flughafenverfahren umgeht, wurde der Antrag meines Onkels abgelehnt. Das neue Gefängnis befinde sich auf Privatgelände, argumentiert die Flughafengesellschaft, die zu 37 Prozent dem Land Brandenburg, zu 37 Prozent dem Land Berlin und zu 26 Prozent der Bundesrepublik Deutschland gehört.

Das ist schon eine interessante Logik – der Staat gründet ein Unternehmen, bezeichnet dieses Unternehmen als "privat" und verbietet dann seinen Bürgern, den Einrichtungen dieses Unternehmens zu nahe zu kommen.

Es handelt sich hier nicht um ein Wasserwerk oder eine Mülldeponie. Es geht um einen Ort, an dem Menschen leben, die in Deutschland Schutz suchen und denen wesentliche Rechte dieses Staates nicht zuerkannt werden.

In Deutschland wird viel über die EU-Außengrenzen gesprochen und wie schlimm die Situation für die dort gestrandeten Menschen ist. Wir kritisieren Griechenland und Italien für das Unrecht, das sie Flüchtlingen antun. Das Thema wirkt weit weg, doch auch jeder internationale Flughafen in Deutschland ist eine EU-Außengrenze. Die Art und Weise, wie der deutsche Staat an diesen Grenzen mit Menschen umgeht, kann doch keine "Privatsache" sein. Es muss doch noch erlaubt sein, gegen Unrecht zu demonstrieren – und zwar dort, wo es geschieht.

Mein Onkel Christian will auf den täglichen Skandal des Flughafenverfahrens aufmerksam machen. Aber noch mehr geht es ihm um etwas anders: Er will selbst nicht vergessen, wie der Staat, in dem er selbst lebt, Menschen behandelt. Das ist es, was der Staat ihm verbieten will.

Eine entsprechende Klage meines Onkels hat das Amtsgericht Königs Wusterhausen im August 2013 abgelehnt. Die Berufung verhandelt das Landgericht Cottbus, es spricht sein Urteil am 1. Oktober 2014.

Ich hoffe, dass dieser Termin die Aufmerksamkeit von Juristen und Journalisten bekommt – und vielleicht ja auch die von Dietmar Woidke, der mittlerweile Ministerpräsident ist.


31. Mai 2014

Ein Plädoyer für den Livejournalismus und gegen die Beleidigungen der Krautreporter

Jahrelang gab es eine klare Trennung zwischen den seriösen journalistischen Marken und ihren schmuddeligen Online-Anhängseln. Die Trennung hat uns den hässlichen Begriff des "Qualitätsjournalismus" eingebracht: Was aus den etablierten Redaktionen kommt, ist gut. Alles andere ist schlecht. In Print-Konferenzen beschwerten sich die Redakteure – oft zu Recht – über die Verwässerung ihrer Marke. In den Online-Konferenzen war der schnelle Klick die einzige Währung.

Das hat sich geändert. Die großen Journalismus-Marken haben investiert. Ihre Webseiten sind mittlerweile eigene Marken, die eigene Wege gehen dürfen und trotzdem nicht vom rechten Pfad abkommen. Gerade jetzt, wo der Onlinejournalismus erwachsen wird, geschieht etwas Merkwürdiges: Wir werden von Kollegen beschimpft.

Wir Onliner besuchen die gleichen Termine wie die Print-Kollegen und schreiben über die gleichen Themen. Laien fallen die Unterschiede zwischen unseren Texten nicht auf. Trotzdem gibt es sie natürlich: Online unterscheiden wir mehr zwischen dem Bericht, den wir von der Agentur beziehen, und der Analyse beziehungsweise der Reportage, die wir lieber selbst schreiben. Unsere Texte sind kürzer und gradliniger, man könnte auch sagen: eindimensional. Und sie sind natürlich schneller.

Wenn ich um 11 Uhr von einer wichtigen Pressekonferenz komme, gehe ich nicht Mittagessen, bevor meine Analyse fertig ist. Wenn ich um 20 Uhr eine Wahlkampfrede gehört habe, geht mein Text noch in der Nacht auf die Seite. An einem Wahlabend schreibe ich ab 18.30 Uhr einen schnellen Kommentar und noch einen für den nächsten Morgen. Ich sauge die Artikel der Kollegen auf, gehe in Hintergrundrunden und führe Expertengespräche. Aber wenn ein Ereignis da ist, denke ich schon über die Überschrift nach, bevor es zu Ende ist und während die Kollegen am Newsdesk noch den Liveticker befüttern.

Schnelligkeit ist anstrengend und hat ihren Preis. Jeder meiner Texte könnte besser sein, wenn ich die Zeit hätte, länger über die These nachzudenken und mehr Aspekte zu recherchieren. Dass ich schnell sein muss, hängt auch damit zusammen, dass wir mit wenigen Redakteuren viele Texte schreiben. Aber es liegt vor allem daran, dass die Aufmerksamkeit für aktuelle Themen exponentiell abfällt. Ereignisse sind dann das Tagesgespräch, wenn sie stattfinden, und nicht am Tag danach. Wir wissen das, wir sehen es daran, welche Texte unsere Leser anklicken.

Zum Beispiel lesen sie gerne Liveticker, eine journalistische Darstellungsform, die es vor wenigen Jahren nur im Sport gab. Aber sie bietet auch in der Politik einen Mehrwert, weil sie die Leser enger mit dem Ereignis zusammenbringt. Wer das ablehnt, hängt in der alten Denke fest, dass die Journalisten sagen können, was die Leser für wichtig zu halten haben.

Keiner muss mitklicken. Jeder darf auf den neuen "Spiegel" oder die neue "Zeit" warten. Wer ausgeruhte Debattenbeiträge oder investigative Recherchen haben möchte, ist bei uns tatsächlich eher an der falschen Adresse. Aber politische Debatten halten sich nicht mehr an den Rhythmus der Zeitungen. Wer dabei sein möchte, liest online. Der Livejournalismus ist angemessen, er wird gebraucht. Und er muss sich sicher nicht verstecken.

Das ist mein Plädoyer für den Onlinejournalismus, das ich schon lange einmal loswerden wollte. Der Anlass, warum das gerade jetzt passiert, ist das Projekt "Krautreporter": Eine Gruppe von Journalisten will Geld von Nutzern einsammeln und die entstehenden Texte dann trotzdem kostenlos ins Internet stellen. Das ist konsequent, auch wenn es sich nach dem Gegenteil anhört. Denn die Krautreporter probieren einen neuen Weg in einem Medium, dessen Wege garantiert noch nicht komplett ausgekundschaftet sind. Vielleicht liefern sie bald ausgeruhte Debattenbeiträge und investigative Recherchen, wie sie bislang vor allem in den Printmedien zu finden sind. Dass unter den Gründern die von mir verehrten Kollegen Stefan Niggemeier und Thomas Wiegold sind, macht es mir besonders leicht, dem Projekt alles Gute zu wünschen. Aber es bleibt eine offene Frage.

Warum beleidigen mich die "Krautreporter" und ziehen meine Arbeit ins Lächerliche? In ihren Augen mache ich aus einem "Sack Reis" eine "Sensationsmeldung", liefere ich eine "hektische Newsticker-Staffel" ab und keine "Substanz". Meine Leser mache ich zum "Klickvieh". Ich erkläre nicht, ich posaune nur meine Meinung heraus. Ich finde mich in einem Topf wieder mit Bloggern, die alte Youtube-Videos sexy betexten. Dabei sind es die "Krautreporter", die ihr Selbstlob so anteasern: "Zehn fantastische Gründe, Krautreporter zu unterstützen. Nummer 7 hat mir die Tränen in die Augen getrieben." Natürlich alles mit einem ironischen Zwinkern. Wie witzig.

Besonders trifft mich der Vorwurf der Käuflichkeit. "Immer wieder wird Schleichwerbung in Online-Medien entdeckt", heißt es auf der Website der "Krautreporter". Das mag sein. Und vielleicht bin ich nur zu naiv, um mir die Situation vorzustellen, wie jemand anders als meine Redaktion bei mir einen Artikel bestellt. Aber wer Schleichwerbung zum Grund erhebt, den Onlinejournalismus neu zu erfinden, der stellt einen Generalverdacht auf, der einfach nicht berechtigt ist.

Auf diesem Niveau war die Debatte um die Zukunft des Journalismus schon einmal vor etwa zwei bis drei Jahren. In den Blogs war "print" eine Beleidigung. Und in den Feuilletons stand, dass das Internet alles kaputt mache. Das ist nun auch die Wortwahl der "Krautreporter". Sie dagegen wollen den "unabhängigen Online-Journalismus der Zukunft" machen.

Wenn die Texte der "Krautreporter" so elitär herabschauend und so undifferenziert sind wie das Marketing, möchte ich keinen davon lesen. Und ich werde schon gar kein Geld dafür bezahlen.

10. Mai 2012

Fragen an die Piraten


Liebe Piraten, liebe Piraten-Wähler,

ich dachte mal, ich verstehe euch, aber das war schnell vorbei. Meine Verwirrung über euch wird immer größer. Nun habe ich ein paar ernsthafte Fragen an euch. Und nein, ich will nicht wissen, was Twitter ist oder Liquid Democracy. Naja, vielleicht doch. Aber ganz langsam.

Als neulich euer Spitzenkandidat in NRW gefragt wurde, welches eurer Wunschprojekte er kippen würde, wenn das Geld nicht für alles ausreicht, antwortete er: Das müssen wir dann diskutieren. Immer, wenn ihr zu etwas noch keine Meinung habt, sagt ihr: Das müssen wir dann noch diskutieren. Ich finde gut, dass ihr in eurer Partei Utopien entwickelt, ich finde gut, dass ihr vor Entscheidungen allen die Möglichkeit geben wollt, sich zu äußern und ich finde gut, dass eure Vorstände sich mit ihren eigenen Meinungen betont zurückhalten. Aber: Stellt euch vor, ihr habt eine begrenzte Summe Geld zur Verfügung und viele Projekte, die ihr gerne angehen wollt. Ihr müsst euch entscheiden: Mehr Kita-Plätze oder kleinere Gruppen? Ihr stellt das zur Abstimmung und vielleicht sagen 60 Prozent das Eine, 40 Prozent das Andere. Dann geht es um die Schule: Mehr Nachmittagsbetreuung oder besseres Mittagessen? Mehr Computer oder bessere Gebäude? Wenn ihr nicht gerade mit 100 zu 0 abstimmt, werden einige von euch jedes Mal enttäuscht sein. Vielleicht wirst du auch enttäuscht sein. Und das waren die einfachen Fragen. Weiter geht es mit: Wieder mehr Frontalunterricht oder noch mehr Gruppenarbeit? 12 oder 13 Jahre bis zum Abi? Mehr Geschichte oder mehr Biologie? Wie würdest du, lieber Piraten-Wähler, dich entscheiden?

Warum glaubt ihr, dass die Antworten eurer Partei, die ihr jetzt noch gar nicht kennt, euch mehr zusagen werden als die Antworten der anderen Parteien?

Vielleicht kommt es ja einmal so weit, dass die Politik transparenter wird. Ihr kämpft dafür und ich wünsche euch dafür alles erdenklich Gute. Und ich bin sogar verhalten optimistisch. Vielleicht werden Koalitionsverhandlungen, Verträge mit Unternehmen, Meinungsbildungsprozesse in Parteigremien und so weiter irgendwann viel mehr in der Öffentlichkeit geführt. Trotzdem wird es aus zwei Gründen nicht immer eine Öffentlichkeit geben: Erstens gibt es Dinge, die nur mit einer vertraulichen Vorbereitung funktionieren. Zum Beispiel, als mit der Vermittlung deutscher Diplomaten Palästinenser und Israelis Gefangene austauschten. Oder wenn bei der Stadtverwaltung jemand eingestellt werden soll, die Bewerber aber nicht wollen, dass ihr Interesse öffentlich wird. Zweitens interessiert sich manchmal einfach niemand. Wenn ihr einen Stammtisch macht und nur der Vorstand kommt, vielleicht weil gerade Fußball läuft oder das Thema niemanden interessiert: Dann ist das, was der Vorstand dort bespricht, geheim. Einfach so, ohne dass jemand eine böse Intrige gesponnen hätte. Auch ich interessiere mich nicht für alles und ich möchte mir darum nicht die Zeit nehmen, alles zu kontrollieren, was Politiker entscheiden. Darum möchte ich jemanden wählen, der so ähnlich tickt wie ich. Jemand, von dem ich glaube, dass ich zufrieden mit seinen Entscheidungen wäre, wenn ich mir Zeit nehmen würde, ihn zu kontrollieren. Mir ist darum nicht egal, und es kann doch eigentlich auch euch nicht egal sein, wer uns vertritt. Ich wähle darum nicht nur ein Konzept, sondern eine Person. Eine Person, deren Werte ich teile und der ich vertraue. Zumindest etwas. Zugegeben: Ein Politiker, auf den das gut zutrifft, findet sich nicht immer. Und ich bin mir auch nicht sicher, ob unser System solche Leute fördert. Trotzdem wäre es mir nicht egal, wer an der Spitze meiner Partei steht, wenn ich Mitglied einer Partei wäre. Ihr dagegen wollt nur einen Verwalter.

Warum glaubt ihr nicht an die repräsentative Demokratie?

Wenn euer politischer Geschäftsführer in eine Live-Talkshows geht, besteht er darauf, bei Twitter mitlesen zu dürfen. Ich bin mir nicht sicher, was er dann liest: Postings von Leuten, denen er folgt? Nein, damit würde er ja auswählen, wer sich beteiligen darf. Also eher alles, was den Hashtag zur Sendung beinhaltet? Das hieße, jeder kann ihm de facto eine Nachricht schicken. Wie viele Tweets kann man lesen? Vielleicht zehn pro Minute, wenn man sich darauf konzentriert? Über eine große Talkshow gibt es in der Regel wesentlich mehr Tweets. Und in so einer Sendung gibt es noch anderes, auf das man sich konzentrieren muss. Es ist der totale Zufall, was er dort liest. So kann man keine Diskussion bereichern. Dabei gäbe es ja die Möglichkeit, die Partei innerhalb von, sagen wir, einer Viertelstunde zu befragen und durch ein Voting oder Liquid Feedback ein Meinungsbild zu bekommen. Jemand könnte parallel zur Diskussion die Fragen einstellen und dem Vertreter in der Talkshow das Ergebnis mitteilen. Das wäre ein demokratischer Ansatz. Twitter ist nur Rauschen. Und das Mitlesen bei Twitter ist darum Schein-Demokratie. Allerhöchstens gibt es euch das Gefühl, mitreden zu können. Könnt ihr aber in dem Moment nicht. Oder genauer: Die Wahrscheinlichkeit, dass genau du gehört wirst, ist sehr gering. Trotzdem findest ihr das irgendwie cool.

Warum steht ihr so auf Schein-Demokratie?

In Estland werden Wahlen über das Internet abgehalten. In der Schweiz darf man alle paar Monate über eine politische Frage abstimmen. In Parteien werden wichtige Fragen per Urabstimmung geklärt. Im Grunde spricht doch nichts dagegen, alles drei zu kombinieren und via Internet in regelmäßigen Abständen über Konzepte und Gesetze zu entscheiden. Die Diskussion dazu könnte davor auf Liquid Feedback laufen und von den Medien begleitet werden. Das wäre transparente, direkte Demokratie. Ich würde mir so etwas wünschen. Gerne deutschland- oder europaweit. Wenn es eine Partei gäbe, die es für ihre Parteibeschlüsse ausprobierte, hielte ich das für einen demokratischen Fortschritt. Die Piraten aber fassen inhaltliche Beschlüsse einmal im Jahr auf einem Parteitag. Wie alle.

Warum glaubt ihr nicht an direkte Demokratie?

Ich bin gespannt auf eure Antworten.

Viele Grüße.