Liebe Piraten, liebe Piraten-Wähler,
ich dachte mal, ich verstehe euch, aber das war schnell vorbei. Meine Verwirrung über euch wird immer größer. Nun habe ich ein paar ernsthafte Fragen an euch. Und nein, ich will nicht wissen, was Twitter ist oder Liquid Democracy. Naja, vielleicht doch. Aber ganz langsam.
Als neulich euer Spitzenkandidat in NRW gefragt wurde, welches eurer Wunschprojekte er kippen würde, wenn das Geld nicht für alles ausreicht, antwortete er: Das müssen wir dann diskutieren. Immer, wenn ihr zu etwas noch keine Meinung habt, sagt ihr: Das müssen wir dann noch diskutieren. Ich finde gut, dass ihr in eurer Partei Utopien entwickelt, ich finde gut, dass ihr vor Entscheidungen allen die Möglichkeit geben wollt, sich zu äußern und ich finde gut, dass eure Vorstände sich mit ihren eigenen Meinungen betont zurückhalten. Aber: Stellt euch vor, ihr habt eine begrenzte Summe Geld zur Verfügung und viele Projekte, die ihr gerne angehen wollt. Ihr müsst euch entscheiden: Mehr Kita-Plätze oder kleinere Gruppen? Ihr stellt das zur Abstimmung und vielleicht sagen 60 Prozent das Eine, 40 Prozent das Andere. Dann geht es um die Schule: Mehr Nachmittagsbetreuung oder besseres Mittagessen? Mehr Computer oder bessere Gebäude? Wenn ihr nicht gerade mit 100 zu 0 abstimmt, werden einige von euch jedes Mal enttäuscht sein. Vielleicht wirst du auch enttäuscht sein. Und das waren die einfachen Fragen. Weiter geht es mit: Wieder mehr Frontalunterricht oder noch mehr Gruppenarbeit? 12 oder 13 Jahre bis zum Abi? Mehr Geschichte oder mehr Biologie? Wie würdest du, lieber Piraten-Wähler, dich entscheiden?
Warum glaubt ihr, dass die Antworten eurer Partei, die ihr jetzt noch gar nicht kennt, euch mehr zusagen werden als die Antworten der anderen Parteien?
Vielleicht kommt es ja einmal so weit, dass die Politik transparenter wird. Ihr kämpft dafür und ich wünsche euch dafür alles erdenklich Gute. Und ich bin sogar verhalten optimistisch. Vielleicht werden Koalitionsverhandlungen, Verträge mit Unternehmen, Meinungsbildungsprozesse in Parteigremien und so weiter irgendwann viel mehr in der Öffentlichkeit geführt. Trotzdem wird es aus zwei Gründen nicht immer eine Öffentlichkeit geben: Erstens gibt es Dinge, die nur mit einer vertraulichen Vorbereitung funktionieren. Zum Beispiel, als mit der Vermittlung deutscher Diplomaten Palästinenser und Israelis Gefangene austauschten. Oder wenn bei der Stadtverwaltung jemand eingestellt werden soll, die Bewerber aber nicht wollen, dass ihr Interesse öffentlich wird. Zweitens interessiert sich manchmal einfach niemand. Wenn ihr einen Stammtisch macht und nur der Vorstand kommt, vielleicht weil gerade Fußball läuft oder das Thema niemanden interessiert: Dann ist das, was der Vorstand dort bespricht, geheim. Einfach so, ohne dass jemand eine böse Intrige gesponnen hätte. Auch ich interessiere mich nicht für alles und ich möchte mir darum nicht die Zeit nehmen, alles zu kontrollieren, was Politiker entscheiden. Darum möchte ich jemanden wählen, der so ähnlich tickt wie ich. Jemand, von dem ich glaube, dass ich zufrieden mit seinen Entscheidungen wäre, wenn ich mir Zeit nehmen würde, ihn zu kontrollieren. Mir ist darum nicht egal, und es kann doch eigentlich auch euch nicht egal sein, wer uns vertritt. Ich wähle darum nicht nur ein Konzept, sondern eine Person. Eine Person, deren Werte ich teile und der ich vertraue. Zumindest etwas. Zugegeben: Ein Politiker, auf den das gut zutrifft, findet sich nicht immer. Und ich bin mir auch nicht sicher, ob unser System solche Leute fördert. Trotzdem wäre es mir nicht egal, wer an der Spitze meiner Partei steht, wenn ich Mitglied einer Partei wäre. Ihr dagegen wollt nur einen Verwalter.
Warum glaubt ihr nicht an die repräsentative Demokratie?
Wenn euer politischer Geschäftsführer in eine Live-Talkshows geht, besteht er darauf, bei Twitter mitlesen zu dürfen. Ich bin mir nicht sicher, was er dann liest: Postings von Leuten, denen er folgt? Nein, damit würde er ja auswählen, wer sich beteiligen darf. Also eher alles, was den Hashtag zur Sendung beinhaltet? Das hieße, jeder kann ihm de facto eine Nachricht schicken. Wie viele Tweets kann man lesen? Vielleicht zehn pro Minute, wenn man sich darauf konzentriert? Über eine große Talkshow gibt es in der Regel wesentlich mehr Tweets. Und in so einer Sendung gibt es noch anderes, auf das man sich konzentrieren muss. Es ist der totale Zufall, was er dort liest. So kann man keine Diskussion bereichern. Dabei gäbe es ja die Möglichkeit, die Partei innerhalb von, sagen wir, einer Viertelstunde zu befragen und durch ein Voting oder Liquid Feedback ein Meinungsbild zu bekommen. Jemand könnte parallel zur Diskussion die Fragen einstellen und dem Vertreter in der Talkshow das Ergebnis mitteilen. Das wäre ein demokratischer Ansatz. Twitter ist nur Rauschen. Und das Mitlesen bei Twitter ist darum Schein-Demokratie. Allerhöchstens gibt es euch das Gefühl, mitreden zu können. Könnt ihr aber in dem Moment nicht. Oder genauer: Die Wahrscheinlichkeit, dass genau du gehört wirst, ist sehr gering. Trotzdem findest ihr das irgendwie cool.
Warum steht ihr so auf Schein-Demokratie?
In Estland werden Wahlen über das Internet abgehalten. In der Schweiz darf man alle paar Monate über eine politische Frage abstimmen. In Parteien werden wichtige Fragen per Urabstimmung geklärt. Im Grunde spricht doch nichts dagegen, alles drei zu kombinieren und via Internet in regelmäßigen Abständen über Konzepte und Gesetze zu entscheiden. Die Diskussion dazu könnte davor auf Liquid Feedback laufen und von den Medien begleitet werden. Das wäre transparente, direkte Demokratie. Ich würde mir so etwas wünschen. Gerne deutschland- oder europaweit. Wenn es eine Partei gäbe, die es für ihre Parteibeschlüsse ausprobierte, hielte ich das für einen demokratischen Fortschritt. Die Piraten aber fassen inhaltliche Beschlüsse einmal im Jahr auf einem Parteitag. Wie alle.
Warum glaubt ihr nicht an direkte Demokratie?
Ich bin gespannt auf eure Antworten.
Viele Grüße.